
Noch 24 Minuten. Ungeduldig blicke ich auf die Zeitanzeige. Seit mehr als einer halben Stunde sitze ich fast bewegungslos vor dem Laptop und versuche, dem Host des Webinars zu folgen. Dieser macht es mir heute wirklich nicht leicht: Eigentlich sei er Zauberer, erklärt er den knapp 40 Zuschauenden. Trotzdem zeigt er Powerpoint-Folien. Auf der einen Ecke des Bildschirms hat er sein Video projeziert, damit man ihn gleichzeitig sehen kann. Guter Effekt, reicht aber nicht, um mich wachzuhalten. Warum sinkt meine Aufmerksamkeit so schnell?
Bei einer Umfrage zu einer Studie des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) von Dezember 2020 gaben 62,4 % der Befragten an, dass virtuelle Kommunikation sie „müde“ mache. Dieses auch als „Zoom-Fatigue“ oder Online-Müdigkeit bezeichnete Phänomen sei gekennzeichnet durch Reduktion der Konzentration, Ungeduld, fehlende Balance, Kopfschmerzen und Sehstörungen, um nur einige zu nennen (Quelle: www.ibe-ludwigshafen.de).
An der Technik liegt es weniger, es sind mehr die interpersonellen Faktoren, die uns Teilnehmer*innen fehlen. Man weiß mittlerweile um die sinkende Konzentration und versucht daher, Videokonferenzen so effizient und kurz wie möglich zu halten. Dadurch kommen jedoch ausschließlich fachliche Themen über den Bildschirm, der sozio-kulturelle Austausch („Hast du gestern den Tatort gesehen?“) kommt zu kurz. Wo sind die geliebten Kaffeepausen in der Teeküche, bei der man nicht nur die edlen Schuhe der Kollegin bewundert, sondern auch von der neuerdings engen Zusammenarbeit des Controlling-Chefs mit der Marketingleitung erfährt. Social Distancing ist das Schlagwort, bei dem wir uns umso einsamer fühlen, je mehr Kacheln auf dem Bildschirm auftauchen. Bei 20 Teilnehmenden eines Videocalls sind die einzelnen Kacheln so klein, dass mir zwar der Anblick der Schuppen des Kollegen erspart bleiben, aber auch die Mimik und Gestik der anderen Zuhörer*innen beim Vortrag des sehr von sich überzeugten Produktmanagers. Wir Videokonferenzler bleiben soziale Wesen, wir vermissen die zwischenmenschlichen Aspekte genauso wie den informellen Austausch, den Klebstoff, der aus einer Abteilung ein Team macht. Trotz einer Vielzahl virtueller Meetings fühlen wir uns in unserem Home-Office alleine, nur als Teil der Technik, freudlos und müde.
"Was tun?", spricht Zeus, "Die Erde ist weggegeben." Die Aufteilung der Erde lief bei Schiller für den Poeten suboptimal, aber die nächste Videokonferenz können wir retten. Nutzen wir die vielfältigen Möglichkeiten, den vorher genannten Belastungen entgegenzuwirken; technischer, organisatorischer und zwischenmenschlicher Art. Wir setzen einmal voraus, der Prozessor des eigenen PCs, Router und Bandbreite sind groß genug, um Bilder und Ton ruckelfrei und ohne Zeitverzögerung zu übertragen. Wir könnten eine Konferenzsoftware einsetzen, die außer Whiteboard, Umfragen, Präsentationstool und Chat die Möglichkeit bietet, die Gäste alle in einem Raum abzubilden. Bei der Organisation achten wir auf kurze Meetingsequenzen, unterbrochen durch Pausen in virtuellen Teeküchen, sogenannten Breakoutrooms, die kein "Muss" aber eine Einladung zum Small Talk und Netzwerken darstellen. Außerdem laden wir eine möglichst geringe Anzahl von Gästen ein, damit Mimik und Gestik erkennbar bleiben. Wir als Moderator*innen oder Trainer*innen achten darauf, dass alle Teilnehmenden durch eigene Beiträge oder Nutzung der vorhandenen Tools integriert werden. Wir versuchen zu begeistern, anstatt einzuschläfern. Dies können wir, ausgebildet in Online-Didaktik und -Methodik, indem wir unser virtuelles Treffen vielfältig auflockern. Dabei ist fast alles möglich, von kurzer Teamgymnastik vor den Laptops über analoge Mittel wie Flipcharteinbindung bis zu vorher verschickten Karten, mit denen die Teilnehmenden visuelle Zeichen geben können.
Sehr gerne würde ich jetzt die Karte "Du bist nicht lustig!" in die Laptopkamera halten, oder wenigstens die Karte "Ich brauch' nen Kaffee!". Oh ..., da kommt unsere Katze: "Dich schickt der Himmel. Ich geb‘ dir jetzt mal Futter!"
Tini (Freitag, 19 November 2021)
Kannst du mir deine Katze vorbeischicken? Ich habe gleich 2 Stunden Videokonferenz.